Fasan-Kritik

Hellmuth Opitz: Die Lässigkeit des Weltläufigen

lyrikwelt.de
 
 

   
 
 
   
 
Zuletzt spricht der Fasan.
Gedichte von Lothar Thiel
(2013, Verlag Steinmeier / Poesie 21)
Besprechung von Hellmuth Opitz
für die LYRIKwelt.de, die inzwischen leider offline ist.
 
27. September 2013
 

Wer mit knapp 60 seinen ersten Gedichtband herausbringt, den kann man mit Fug und Recht als Spätberufenen bezeichnen. Dass man bei diesem Band als Leser trotzdem nie den Eindruck hat, einem poetischen Debütantenball beizuwohnen, spricht einerseits dafür, dass Lothar Thiel in Wahrheit gar kein Debütant ist; andererseits verdeutlicht es die Qualität seiner Poeme. Thiels Gedichte sind bereits in einigen namhaften Poesie-Anthologien erschienen sowie auf fabmuc.de, dem Blog des Literaturfestes München. Auf diesem Fest im Herbst 2011 konnte ihn ein größeres Lesepublikum auch einmal live erleben. Wollte man seine Poesie auf einen Nenner bringen, so entpuppt sich das als schwieriges Unterfangen: Zu vielfältig die Themen, zu vielsprachig die Tonlagen, zu europäisch die Verortung. Aber um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: So vielschichtig ist auch das Lesevergnügen! Lothar Thiel, der im Baskenland, genauer: im nordspanischen Bilbao lebt, verfügt in seinen Gedichten über den beiläufigen Charme der Weltläufigkeit. Lässig streut der weitgereiste Dichter seine Flaneur-Sicht in die Gedichtanfänge. Doch Vorsicht! Die scheinbare Lässigkeit ist versstreng durchkomponiert, Thiel beherrscht seine Jamben und Trochäen, virtuos jongliert er mit der Sonettform, wie in dem schon beinahe Kult zu nennenden Gedicht „Die Darmstädter Symphoniker spielen auf”:

komm mit ins große furzorchesterhaus!
der zwiebelhans spielt zärtlich die trompete:
nie inniger ein bläserklang verwehte,
denn hans holt stets das innerste heraus.

Doch lausche auch der herrlichen posaune,
die, sauerkrautbetrieben, laut ertönt.
genial, wie dieser groove das ohr verwöhnt;
er bringt uns alle in champagnerlaune.

kennst du den echten handkäs mit musik?
er ist des paukenschlägers munt’re quelle.
die streicher – darmbesaitet – steh’n bereit

ihr pizzicato knattert walzerglück. –
nun spür’ ich selbst die kreative welle.
her mit der tuba! es ist höchste zeit!

Dieses Po-em „aus den Pforzheimer Elegien“ verschränkt in seinen 14 Sonettversen Kadenzen und Flatulenzen auf kongeniale Weise. Natürlich mögen sich jetzt manche Poesie-Puristen über „Lyrik mit Bierzelt-Themen“ aufregen. Ich sage nur: Wer bereit ist, auch mit hehren Versformen profanste Dinge zu besingen, verdient größten Respekt. Als eine Art „Dada-Kästner“ hat Matthias Politycki den Dichter Lothar Thiel bezeichnet. Und tatsächlich finden sich eine Vielzahl von Dada-Elementen in seinen Gedichten. Man betrachte nur einmal ein lautmalerisches Gedicht wie MEHL-ANN KOHLY, das mit dem Vers beginnt: „âh wy ys myr hayd so mues“ und schon gemahnt dieser klassische Weltschmerzausruf allein durch die Orthographie an mittelhochdeutsche Sangesqualitäten. Ein weiteres schönes Beispiel onomatopoetischer Ambition ist das Gedicht „Gans wi du wilsd“:

ales ist abgenuttst!
du gugs gegwält.
hass mir den gobf gebudsd
und mir des maul geschdudsd,
damid ichs halden sol, des da erdsäld:

grise der sahgbarkaid!
huhre des bildz!
scheise im wörderglaid
schvaveln aus eidelkaid! –
sack, was du dengsd, aber one gesilz!

ales ist abgenuttst!
du hass brovil.
hass mir den gobf gebudsd
und mir des maul geschdudsd,
damid ichs halden sol. jeds bin ich stil.

Das Gedicht nimmt die träge Nachgiebigkeit und Prinzipienlosigkeit des Feuilletons aufs Korn, die gleichzeitig einher geht mit ständigem Krisengerede und einem Alarmismus, der zu Abstumpfung führt. Lothar Thiel macht die beklagenswerte Laschheit des „Anything goes“ auf raffinierte Weise sichtbar. Er schickt die Konsonanten des Gedichts durch eine Weichmacher-Lauge und skizziert so ein treffliches Bild des intellektuellen Diskurses in seiner ganzen schlurfigen Pantoffeligkeit. Lesern mit Feinwahrnehmung wird dabei auffallen, dass einige Wörter von dieser Weichspülung ausgenommen sind („abgenuttst“, „sack“), Wörter, die durch ihre eigenwillige Schreibweise eine gewollte vulgäre Kraft entfalten. Der lyrische Formenreichtum des Virtuosen Thiel reicht vom simplen Knittelvers in Gernhardt’scher Tradition wie in „Symposion über Trinkgewohnheiten“ „nie mehr sauf’ ich billigsekt/weil der echt zum kotzen schmeckt“ bis hin zur versmaßgenauen Ode „Missachtung“, die fomvollendet ihr Mitgefühl an ein reifendes Kornfeld versendet: „oh! du ahnungsschwang’res weizenfeld,/wenige wochen erst grünend,/wirst indes bös gedüngt/ vom weinselig heimwärts grölenden küster,/ der, kaum des wiesenbodens noch gewärtig,/ durch die empörte hecke brechend,/ in dir zum absturz kommt.“ Wie aus dem Handgelenk geschüttelt scheinen diese Verse, die sich mit übermütiger Spiellaune und hohem Ton den irdischen Irrungen und Wirrungen eines Betrunkenen widmen. Aus der Reibung von hohem Ton und profanem Gegenstand schlägt Thiel immer wieder auf’s Neue poetische Funken. Doch diese Funken springen auch bei seinen freien Versen über wie z.B. in dem wunderbaren Gedicht „Wassermusik“, in dem das Meer orchstrale Qualitäten gewinnt:

der kammerchor der kleinen und mittleren wellen
mit ihren ganz individuellen
an-meine-ohren-hinplätscher-stimmchen
links und rechts und vorn und hinten.

gewiss würde ich ihnen allen namen schenken
ich würde den platz hier für allabendliche proben mieten
und sogar spezielle geplätscher- & gluckerpartituren in auftrag geben
wenn sie nur nicht so verdammt kurzlebig wären.

Kurzlebig sind die Verse von Lothar Thiel keinesfalls. Sie setzen sich fest wie die Hooklines eines guten Popsongs. Und so gelungen, abwechslungsreich und im besten Sinne unterhaltsam ist sein ganzer Gedichtband.
   
   
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