Angemerkt

Das titellose Gedicht

   
Von Lothar Thiel
Bilbao, den 11. August 2014

     
Der Titel eines Gedichts erfüllt viele Funktionen. Traditionellerweise gibt er eine Grundinformation zum jeweiligen Gedicht. Tradition ist hier sehr wichtig, da die Leser scheinbar ganz natürlich vom Titel eine Auskunft über das Gedichtthema erwarten. Mit dieser Tradition lässt sich natürlich auch spielen und sofern dies geschieht, ist der Titel nicht bloß eine gleichsam externe Aussage über das Gedicht, sondern Teil desselben. Mit dem Titel werden eine Orientierung und eine Perspektive geschaffen, z.B. eine sachliche, eine persönliche, eine ironische, wodurch ganz unterschiedliche Erlebens- und Rezeptionsweisen, wenn nicht erzeugt (das würde die re-kreative Aktivität des Lesers leugnen), so doch angeregt werden.

Den Titel wegzulassen bedeutet daher zunächst, dem Leser a priori solche Orientierung und Perspektive in Bezug auf das Gedicht zu verweigern. Der Leser wird dann nicht mit einer, wenn unter Umständen auch ironischen und ihn daher vielleicht in die Irre führenden Erwartung die Rezeption der Verse beginnen. Sondern er wird erst einmal versuchen, das Thema zu erfassen, um es unter dem dadurch gewonnenen persönlichen Blickwinkel noch einmal zu lesen – oder sogar beides parallel zu vollziehen: zu verstehen, worum es geht, und, auf unterschiedlichen (‚steigenden‘?) Niveaus seines Themaverständnisses, die poetische Substanz auf sich wirken zu lassen.

Dies kann zu Irritationen führen und vermutlich soll es dies sogar in vielen Fällen. Der ‚ideale‘ Leser eines titellosen Gedichts wird dieses mehr als nur einmal lesen und seine sich entwickelnden und voneinander unterscheidenden Erlebnisse und Deutungen miteinander vergleichen, und er wird so eine reichere Ausbeute mitnehmen, als wenn er durch einen Titel nur in eine bestimmte Richtung geleitet würde.

Dies soll freilich nicht so verstanden werden, dass Gedichte mit Titeln unweigerlich zu einer Art Schmalspurrezeption verleiteten! Der ‚ideale‘ Leser ist eine theoretische Abstraktion; der reale macht ohnehin, was er will.

Es fragt sich nicht allein deshalb, ob das titellose Gedicht modellhaft gesehen und generalisiert werden sollte. Der Inhalt und die Sprache des Poems müssen die zusätzliche Mühe, die dem Leser abverlangt wird, auch lohnen und belohnen. Sonst ist es wie vieles, was so zusammengedichtet wird (man denke etwa an die beliebten blinden Motive in manchem hermetischen Gedicht!), nur eine prätentiöse Marotte, auf die man liebend gerne verzichten kann.