Angemerkt

Ist Kunst die Offenbarung des Unsagbaren?

     
Ein Essay von Lothar Thiel
Schwabing, 27. Dezember 2020

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Veröffentlicht und zur Diskussion gestellt auf Academia.edu

Folge-Essay hierzu: „Warum die Externalisierung innerer Zustände des Künstlers durch sein Werk nicht die These von der Offenbarung des Unsagbaren durch die Kunst belegt”

     
Das Jahr mit der gefälligen Ziffernfolge 2-0-2-0 lieferte etliche Belege für die Binsenweisheit, dass der Schein, insbesondere der schöne, trügen kann. Dies spielt nicht auf das Finale des amtierenden US-Präsidenten an, denn wo bliebe da der Schein, gar der schöne? Sondern natürlich auf die Pandemie, die die Welt nunmehr seit einer gefühlten Ewigkeit in Atem hält und zu Schutzstrategien auf allen Ebenen veranlasst. Zu diesen gehört in Zeiten erzwungener physischer Distanz auch die Zunahme virtueller Begegnungen mittels Videokonferenzen. Nicht nur in den Bereichen der Arbeit und der Bildung bedienen sich viele Menschen dieses und anderer digitaler Mittel, um so den Mitmenschen das, was sie sagen wollen, zu offenbaren. Man kann auf diese Weise – dem durfte ich selbst jüngst beiwohnen – sich auch über das Unaussprechliche und dessen möglichen Ausdruck in kreativen Werken austauschen: Ist die Kunst die Offenbarung des Unsagbaren? Nicht zum Verlauf dieser höchst anregenden Unterhaltung, sondern zum Für und Wider der dieser Frage zugrunde liegenden Annahme möchte ich im Folgenden Stellung nehmen. Der Anspruch, positiv zu bestimmen, was Kunst sei, wird damit nicht erhoben.

In meinen Überlegungen werde ich mich auf die mit dem Terminus des „Unsagbaren“ – speziell im Hinblick auf die Kunst – verknüpfbaren Vorstellungen konzentrieren, da mit deren Tragfähigkeit die Möglichkeit, die Themafrage positiv zu beantworten, steht und fällt.

Sagen, sei es sprechend, sei es schreibend, kann ich zwar alles, etwa „xyuzfiztach“. Als völlig irrelevant muss man diese zufällig getippte Buchstabenfolge nicht abtun, da sie durchaus Assoziationen wecken kann. Dennoch bezieht sie sich auf nichts, was materiell und/oder psychisch unabhängig von ihr ‚a priori‘ bereits vorhanden gewesen wäre, und soll aus diesem Grund nicht weiter berücksichtigt werden. Ex negativo werde daher hier die Menge des Sagbaren auf unabhängig vom Sagen Vorhandenes begrenzt, sofern dies überhaupt eine Einschränkung darstellt. 

Das Benennen von Dingen und Sachverhalten ist eine Form des Sagens und ein unverzichtbares Element jeglicher Kommunikation: Der Sender teilt dadurch dem Empfänger mit, worüber er etwas sagt, das heißt, wovon er redet. Dies können auch diejenigen, die die Rede vom Unsagbaren für sinnvoll halten, schwerlich bestreiten, da sie es sonst selbst nicht für möglich halten könnten, diesen Terminus zum Thema eines Kommunikationsprozesses zu machen. Folglich kann alles, von dessen Vorhandensein eine Person weiß oder zu wissen glaubt, von ihr auch benannt werden.

Das Unsagbare muss sich demnach auf etwas anderes beziehen. Es könnte gemeint sein, dass es Dinge beziehungsweise Sachverhalte gibt, die, obschon im Bewusstsein vorhanden, nicht ‚1:1‘ begrifflich erfasst und kommuniziert werden können, wie etwa höchst persönliche Stimmungen und Farbempfindungen. Dennoch setzen wir im täglichen Leben voraus, dass andere, wenn wir „blau“ sagen oder wenn wir ihnen einen Zustand der Enttäuschung schildern, sich zumindest bis zu einem gewissen Grad dasselbe unter diesen Mitteilungen vorstellen wie wir als deren ‚Sender‘.

Ob sich in der Kommunikation über sinnliche Empfindungen und Emotionen mit den gemeinsam verwendeten Begriffen exakt dieselben Vorstellungen und Gefühle verbinden, können wir – Sender und Empfänger – prinzipiell nicht wissen, weil jeder Person nur das eigene Innere zugänglich ist. Dass hierbei also eine vollständige Identität entstände, ist unwahrscheinlich, weil die psychischen Strukturen der Menschen und ihre auf individuellen Erfahrungen basierenden Assoziationen unterschiedlich sind.

Wenn dies mit dem Unsagbaren gemeint ist, mag es durchaus sein, dass etwa der Maler A es vermag, sein hochkomplexes Gefühlskonglomerat X in seinem Werk in dem Sinne zu vergegenständlichen, dass er selbst im Werk die Resonanz dieses Gefühls in Teilen oder ganz spürt oder vielleicht sogar in einer sein eigenes Bewusstsein darüber erweiternden Form entdeckt. Auch ein Betrachter B kann zum im Werk sich manifestierenden Ausdruck des Gefühls X einen Zugang finden und dieser Zugang kann unter Umständen weit mehr beinhalten, als der Maler A (gesetzt den Fall, er wollte es) ihm über das Gefühl X je in Worten mitteilen könnte. Ob allerdings das Werk für den Betrachter B dasselbe Abbild des Gefühls X ist wie für den Maler A – dies zu entscheiden ist und bleibt aus den bereits ausgeführten ‚Innerlichkeitsgründen‘ prinzipiell unmöglich. Das ‚Unsagbare‘ im oben beschriebenen Sinne treibt bei manchen Menschen gewiss die Kreativität an, aber es offenbart sich nicht in ihren Werken.

Das Unsagbare ist ja schon an sich eine höchst problematische, um nicht zu sagen: unsägliche Kategorie. Zweifellos lässt sich über die Bereiche einer Sache, von denen es keinerlei Kenntnisse gibt, auch nichts Sinnvolles sagen. So verstanden sind diese Gefilde unsagbar. DAS Unsagbare hingegen, sofern es nicht bloß der abstrakte Sammelbegriff all dessen sein soll, was beziehungsweise worüber wir nichts wissen, ist – im Sinne Kants – hypostasiert, also ein Phantom. Denn wie will man denn jemals begründen, dass genau dasjenige, von dem man eo ipso nichts weiß, sich in der Kunst offenbarte? Von etwas, das keine einzige Bestimmung (Eigenschaft) hat außer die, dass man prinzipiell nichts darüber sagen kann? Diesem Unding willkürlich zuzusprechen, es sei das sich in der Kunst Offenbarende, wäre eine creatio ex nihilo, denn etwas, was prinzipiell unbestimmt ist, ist nichts und zwar nicht so, wie DAS Nichts in Hegels Logik gedacht wird, sondern im Sinne von: So etwas gibt es gar nicht!
 
Unbenommen, an diesem unmittelbaren Widerspruch kann sich die Phantasie entzünden: Vom Erlebnis des Touristen, der, am Strand auf das weite Meer blickend, der Unendlichkeit gewahr zu werden glaubt, bis zu den schönsten Dichtungen und Gemälden der Romantiker reichend. Beschritte jedoch die Wissenschaft diesen Weg, hinein in die ‚Dunkelheiten‘, um das hinter der Wirklichkeit liegende ‚Namenlose‘ zu ergründen, mystifizierte sie ihren Gegenstand, statt über ihn aufzuklären, und kapitulierte damit vor der Esoterik.
     
Mein Fazit: Bezieht sich das Konzept des Unsagbaren auf begrifflich nicht kommunizierbare sinnliche Empfindungen und Emotionen des Künstlers, so kann nicht behauptet werden, dass die Kunst sie offenbare, weil der dafür notwendige Vergleich mit dem Inneren des Künstlers unmöglich ist. Wer aber meint, Kunst offenbare das Unsagbare an sich, begibt sich ins Wunderland des Mystizismus. Ich vermute: Das Innere des Künstlers als solches ist gar nicht das Entscheidende, sondern das Arrangement, das dieser mit seinen Mitteln daraus kreiert, und das Abenteuer der Wahrnehmung, das den Betrachter dort zum Entdecker werden lässt.