Angemerkt

Über das Wesen und die Funktion von Kitsch

   
Von Lothar Thiel
München, den 12. Februar 2017

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Veröffentlicht auf Academia.edu

       
Kitsch ist ein Phänomen, das die Menschen selten gleichgültig lässt, sondern bei den meisten entweder emotionale Zustimmung oder Ablehnung hervorruft. Er ist ein impliziter oder expliziter Metatext, der eine Anweisung an den Rezipienten darstellt, wie er das primär Dargestellte interpretieren und auf dieser Interpretation basierend empfinden soll. Er zielt darauf ab, dem Rezipienten den Spielraum zu nehmen, das Dargestellte seinen eigenen Erfahrungen, Kenntnissen und Einstellungen gemäß einzuordnen, zu beurteilen und zu empfinden. Darin begrüßen die einen eine Richtschnur, die ihnen zu Orientierung und sogar Identitätsversicherung verhilft. Die anderen sehen sich eben dadurch als autonom denkende Individuen nicht ernst genommen, vielmehr mit einer Strategie konfrontiert, die zum Ziel hat, sie zu gängeln und zu manipulieren.

Karl-Markus Gauss nennt in seinem Essay „Kitsch“, erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 11./12. Februar 2017, Seite 5, das Beispiel einer inhaltlich an sich löblichen Filmreportage über das Leben und Sterben in einem Konzentrationslager, in der Leichenberge ermordeter Juden zu sehen sind. Den Bildern wird aber elegische Musik zugespielt, was unterstelle, dass der Zuschauer durch die Realität allein nicht (mehr) gerührt werde, dass also der unmittelbare Anblick von Gewalt im Betrachter nichts hervorrufe. „Und unaufhaltsam wurde der Schauplatz realen Schreckens von im Studio hergestelltem Kitsch durchdrungen.“ Ganz korrekt ist dies nicht: Die Realität ist hier der Massenmord, der Schrecken aber ist eine Gefühlsreaktion des Betrachters, zu der es kommt – oder eben nicht kommt. Der Kitsch liegt nicht in der elegischen Musik an sich, sondern darin, dass diese, als ein – im jeweiligen kulturellen Kollektiv bekannter – Transporteur eines bestimmten Gefühls, hier der Wehmut, zur Wahrnehmung der Bilder hinzugefügt und dadurch als Interpretationsanweisung eingesetzt wird: So traurig und betroffen, Zuschauer, wie diese Musik dich macht, soll dich auch der Anblick des im Film Gezeigten machen! Die Betroffenheit des Betrachters soll hervorgerufen werden und die Macher des Films halten diese Anweisung für nötig, weil sie daran zweifeln, dass diese Betroffenheit über die Wahrnehmung des Gezeigten allein entsteht.

Zu jener „gefühlige[n] Aufbereitung“ der Information stellt Gauss fest: „Damit wird die Wahrheit der Ereignisse, an die erinnert und vor denen gewarnt werden soll, verleugnet und verraten. Verraten an die Sentimentalität, und nichts kann kaltherziger sein als die Aufrüstung der Sentimentalität. […] Und am Ende sind wir erschüttert, nicht weil fremdes Leid uns ergreift, sondern weil die Musik uns rührt; und wir weinen, weil wir, gnadenlos geworden aus Sentimentalität, von einer Musik bewegt werden, die aus beliebigen Anlässen zu Herzen geht. Dies ist die tägliche Lehre der Abstumpfung, mit der wir traktiert werden und traktiert werden wollen.“ In dem Maße, wie der Mensch sich dazu konditionieren lässt, (mehr und mehr und schließlich nur noch) auf die Signalwirkung des Kitsches zu reagieren, lässt er sich auch abstumpfen – und das bedeutet immer auch: verrohen. Und indem er eben dies zulässt, lässt er sich dazu bringen, auf die Autonomie seines Urteilens, Fühlens und gegebenenfalls Entschließens zu verzichten, womit er sich freiwillig entmündigt.