Angemerkt

Die Externalisierung innerer Zustände belegt nicht die Offenbarung des Unsagbaren durch die Kunst

   
Warum die Externalisierung innerer Zustände des Künstlers durch sein Werk nicht die These von der Offenbarung des Unsagbaren durch die Kunst belegt

Ein Folge-Essay zu „Ist Kunst die Offenbarung des Unsagbaren?“ von Lothar Thiel, der auf die Diskussion reagiert, die sich daran auf der Plattform Academia.edu entzündet hat

Schwabing, 28. Dezember 2020
   
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Veröffentlicht und zur Diskussion gestellt auf Academia.edu


Die erste Anmerkung zu meinem Essay „Ist Kunst die Offenbarung des Unsagbaren?“ vom 27. Dezember 2020 auf Academia.edu machte auf dieser Plattform am 28.12.2020 Prof. Dr. Robert F. Wittkamp, der an der Kansai University 関西大学, Suita/Osaka, Japan, lehrt: „Im Anschluss ans Fazit vielleicht noch einmal Luhmann (?): ‚Und auch der Künstler kann nur sehen, was er gewollt hat, wenn er sieht, was er gemacht hat.‘ (Die Kunst der Gesellschaft, S. 44)“

Das Luhmann-Zitat, das auf den Aspekt der Externalisierung abhebt, gab mir den Anstoß, meinem Essay die nachfolgende Präzisierung hinzuzufügen.
Völlig unbestreitbar scheint mir, dass ein Kunstwerk neben intendierten und zufälligen Bestandteilen auch Elemente enthalten kann, in denen Inneres - teils Unbewusstes, teils nicht begrifflich Beschreibbares – zutage tritt (s. Fußnote!). Damit kann der Kreative bzw. Künstler auch Einblicke in die eigene Psyche gewinnen, die ihm aus mehreren denkbaren Gründen, z.B. auf Grund von Verdrängung, zuvor nicht möglich gewesen waren.

Klar ist auch, dass ein anderer Betrachter, Hörer, Leser durch seine Rezeption eines solche Externalisierungen enthaltenden Kunstwerks ebenfalls (wie auch immer beschaffene) Einblicke in die psychische Situation des Künstlers, als er das Werk schuf, nehmen kann.

Ist diese Externalisierung durch den kreativen Prozess jedoch mit einer Offenbarung von Unsagbarem gleichzusetzen? Dazu sind unter anderem folgende Voraussetzungen denkbar, mit jeweils unterschiedlichen Implikationen:

    1.

Unter „Offenbarung von Unsagbarem“ soll verstanden werden, dass durch die kreative Externalisierung die Wahrheit des zutage getretenen Inneren deutlich wird. In diesem Fall wäre dies mit einer Aufhebung der Unsagbarkeit verbunden, denn Wahrheit erfordert Begrifflichkeit, sonst handelt es sich um eine Mystifizierung bzw. um eine religiöse Kategorie. Dies würde bedeuten, dass das nunmehr erkannte Teilgebiet des Inneren nicht per se und dauerhaft ‚unsagbar‘ ist, sondern der kreativen Externalisierung bedurfte, um dann sehr wohl in Worte gefasst werden zu können. Vielleicht könnte – exklusiv für die Person des Kreativen und wenn es ihm vor allem darum ginge – auch eine psychologische Konsultation dies leisten? Dazu müsste die Diagnose des Psychologen mit der Enthüllung durch das Werk verglichen werden; das Werk wäre also in jedem Fall hilfreich. (Ein Psychologe würde möglicherweise von vornherein, sofern vorhanden, in der Sitzung mit der ihn konsultierenden Person deren Werk als ein Medium der Analyse nutzen wollen.)

    2.

Unter „Offenbarung von Unsagbarem“ soll keine begriffliche Erkenntnis zu verstehen sein: Dann bedeutet das Zutage-Treten von inneren Zuständen in der Rezeption des Werks durch den Betrachter, Hörer, Leser usw. deren Resonanz in dessen eigenen Gefühlen, über die ein rationaler Diskurs mit Dritten, der begriffliche Objektivierung erfordern würde, nicht möglich ist. Den Austausch subjektiver, da auf rein persönlichen Erfahrungen beruhender Assoziationen schließt dies nicht aus und diese Art von kommunikativem Kunsterleben, etwa bei einem Museumsbesuch zu zweit, ist auch überhaupt nicht von irgendwie minderer Qualität. Allerdings scheint mir der Terminus der „Offenbarung“ in diesem Zusammenhang entschieden zu hoch gegriffen: Erschöpft sich die Begegnung des Rezipienten mit dem durch das Werk zutage getretenen innerpsychischen Sachverhalt des Künstlers auf ein Mitschwingen mit seinen – ebenfalls unsagbaren – eigenen Gefühlen, die er durch die Schilderung von subjektiven Assoziationen allenfalls metaphorisiert, so treten möglicherweise verschiedene Gefühle oder auch nur deren Deutungen in eine vom Rezipienten nicht rational erfasste Beziehung zueinander. Was durchaus genussvoll sein kann! Aber ist das wirklich eine Offenbarung von Unsagbarem?

Mein Fazit: Auch wenn nicht bestritten werden kann, dass ein Kunstwerk neben intendierten und zufälligen Elementen auch Externalisierungen innerer Zustände der es kreierenden Person enthalten kann, folgt daraus nicht, dass sich durch die Kunst eine Offenbarung des Unsagbaren vollziehe.

Denn entweder zeigt die Offenbarung die Wahrheit dieser inneren Zustände, was Begrifflichkeit erforderte, dann würden sich diese (wie manch anderes auf der Welt) als nicht per se, sondern nur temporär ‚unsagbar‘ erweisen. Dass es eine großartige Seite der Kunst ist, diese Externalisierung zu ermöglichen, ist ebenfalls unbezweifelbar.
Oder es wird angenommen, dass sich die Offenbarung des Unsagbaren lediglich in der Resonanz mit den Gefühlen des Rezipienten ereigne, somit in einer Sphäre, die nicht begrifflich beschreibbar, also letztlich ebenso unsagbar ist wie der durch das Werk externalisierte innere Zustand des Künstlers. Dann aber schiene eher die Vorstellung angemessen, dass das Werk den Betrachter in sein psychisches Geheimnis hineinzieht. Gesetzt, dass dem so sei, bestünde der Kunstgenuss zu einem nicht geringen Teil aus diesem Erlebnis.

Meine Vermutung: Die scheinbar unvereinbaren Extreme, die rationale – höchstwahrscheinlich immer nur partielle – Erkenntnis der durch das Werk externalisierten inneren Zustände des Künstlers einerseits und das rein emotionale Resonanzerlebnis des Rezipienten andererseits schließen sich überhaupt nicht aus, sondern machen das emotionale und kognitive Erlebnis des Kunstgenusses zu einem wesentlichen Teil aus. Die Metapher von den zwei Seiten derselben Medaille würde ich hier lieber nicht verwenden, weil es wohl noch mehr Seiten des Kunsterlebens gibt, etwa die Inspiration zu eigenem kreativem Tun, der Gewinn eines spezifischen Zugangs zu gesellschaftlichen Verhältnissen früherer Zeiten, um nur einige weitere Dimensionen anzudeuten.


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Fußnote: Diese (Vollständigkeit nicht beanspruchende) Unterscheidung dreier Quellen des kreativen Prozesses – Intention, Zufall und Externalisierung innerpsychischer Zustände – würde Luhmanns Feststellung dahingehend relativieren, dass der Künstler zumindest wissen kann, was er mit/in seinem Werk will, bevor er es in fertigem Zustand vor sich hat. Andernfalls wäre es unmöglich, dass der Künstler bei dessen Betrachtung feststellt, dass er, aus potentiell verschiedensten Gründen, seine Intention nicht wie vorgesehen bzw. nicht vollständig umgesetzt hat, was er übrigens nicht nur als negative, sondern auch als positive Erfahrung erleben kann. Es sei keineswegs bestritten, dass zwischen den oben unterschiedenen Quellen Wechselwirkungen bestehen.

Man könnte Luhmanns Feststellung so interpretieren, dass er impliziert, das Realisierte und das Gewollte seien per se identisch. Vollzieht man jedoch die oben vorgeschlagene Unterscheidung von Intention, Zufall und Externalisierung innerpsychischer Zustände als Quellen des kreativen Prozesses nach, erscheint auch die – geläufige, aber allein deswegen ja noch nicht suspekte – Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Absichten und deren Umsetzung nach wie vor möglich.