Erzählt

Bei Nacht und Wind


Der folgende Text ist das zweite Kapitel aus dem Romanfragment “Herrn Hadrian Moosfeuers allmählich schwindendes Weltbürgertum”. Nachdem er seiner Gattin Madeleine eröffnet hat, die Famlie verlassen und ins Altersheim ziehen zu wollen, vergeht wenig Zeit, bis sich Hadrian Moosfeuer tatsächlich in einem Heim wiederfindet, einem für seelisch Kranke allerdings, und dies anscheinend nicht ganz ohne Zutun seiner Frau. Der vormalige Philosophielehrer fühlt sich in der neuen Umgebung jedoch gar nicht so unwohl, da der Anteil älterer Herrschaften an den Patienten beträchtlich ist. Hier stößt er auf den Mythos der legendären Eusebia Esslinger, wegen deren Depressionen das “Hotel”, wie die Insassen die psychiatrische Klinik etwas verharmlosend nennen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem reichen Weinhändler erbaut wurde. Wie die meisten Anstaltsbewohner arbeitet auch Moosfeuer bald an ‘der einzig wahren’ Biographie Eusebia Esslingers. Durch den Mord am Serviermädchen Nicoletta, der polizeiliche Ermittlungen im “Hotel” nach sich zieht, fühlt sich Moosfeuer in seinen Forschungen derart gestört, dass er eines Nachts heimlich ein Taxi bestellt, um sich von diesem Ort der Unruhe zu entfernen. Er kann nicht ahnen, dass einige der Personen, denen er auf der Taxifahrt im Wald begegnet, ihn in das größte Abenteuer seines Lebens verwickeln werden.

 
„Sie befördern mich bitte nach Schorndorf im Remstal. Das liegt knapp dreißig Kilometer östlich von Stuttgart.“
Das Hotel war inzwischen außer Sichtweite und Moosfeuer fühlte sich wohler.
„Ich kenne Schorndorf, dort wohnt eine Jugendliebe von mir“, entgegnete der Taxifahrer heiser. Er war offenkundig sehr stark erkältet.
„Jugendliebe? Na, gar so alt scheinen Sie ja noch nicht zu sein.“
Plötzlich hatte ein heftiges Schneegestöber eingesetzt. Fette Flocken, die auf der Windschutzscheibe landeten, veranlassten den Fahrer ein kürzeres Scheibenwischerintervall einzuschalten.
„Wenn Sie wüssten! Wenn man mit einer anderen Arbeit sein Brot verdienen muss als dem erlernten Beruf, dann geht’s mit der Jugend schnell dahin.“
Moosfeuer, in dessen Denken die Thematik des Alterns ja breiten Raum einnahm, hielt diese These für (zu einem späteren Zeitpunkt) durchaus erörternswert.
„Und was wäre denn ihr eigentlicher Beruf, wenn man fragen darf?“
„Doktor der Theologie. Mein Spezialgebiet ist die Divinität.“
„Respekt, Respekt, junger Mann“, entfuhr es Moosfeuer, „aber das ist doch noch kein Beruf.“
„Beruf kommt von Berufung, Mann!“
Moosfeuer musste die Berechtigung dieses Tadels einräumen.
„Womit Sie nur allzu Recht haben! Ich meinte nur, kann man von Divinität auch leben?“
„Sie sollten eher fragen, ob man ohne sie leben kann! Ein Leben ohne das Göttliche ist doch völlig sinnlos. Wahr ist allerdings: Das Leben bestreiten kann man damit nicht! Das musste ich schmerzlich erfahren. Die Repräsentanten der großen Religionen tabuisieren das Thema, denn für sie liegt Divinität ausschließlich in Gott, so wie sie ihn jeweils dogmatisiert haben. Divinität zu akzeptieren, so wie ich sie verstehe, hieße für sie, den ersten Schritt tun zum Poly-, wenn nicht gar zum Pantheismus. Was für ein elendes Ignorantenpack!“
Freilich konnte auch Moosfeuer sich, wenngleich aus anderen Gründen, nicht sonderlich für das Thema erwärmen.
„Taxi fahren, das ist jedenfalls gewiss nicht Ihr Niveau“, versuchte er seinen Fauxpas abschließend wieder gut zu machen.
Der Chauffeur legte eine Vollbremsung hin, was bei dem rutschigen Straßenbelag zur Folge hatte, dass die Taxe in den linken Straßengraben schlitterte:
„Das ist ja unerhört! Ich verbitte mir diesen impertinenten Dünkel! Ich kenne unter meinen Kollegen keinen, der nicht promoviert, habilitiert, wenn nicht sogar emeritiert wäre.“
Moosfeuer, dem der Hut vom Kopf fiel, blieb die Entschuldigung im Halse stecken und er stieß einen spitzen Schrei aus:
„Ja, sind Sie denn wahnsinnig geworden? Sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben!“
„In Anbetracht Ihres Domizils wäre ich mit dem Vorwurf des Wahnsinns etwas zurückhaltender.“
Moosfeuer bekam es mit der Angst zu tun, zumal er sich einbildete, rote Blitze in den Augen des Chauffeurs wahrgenommen zu haben.
„Ich meine ja nur. – Und was sollen wir nun tun?“
„Zuerst einmal aussteigen!“
Das war nun einfacher gesagt als getan. Die rechten Räder schwebten in der Luft und die linken saßen im Bett eines kleinen Bächleins fest, dessen Eisdecke zu dünn gewesen war, um dem Gewicht des Autos standzuhalten. Die linken Türen waren blockiert, so dass die beiden Männer aus den rechten herausklettern mussten. Nacheinander und mit äußerster Vorsicht, damit der Wagen nicht nach rechts kippte und unkontrolliert weiterrutschte.
Die Unfallstelle befand sich in einer Rechtskurve der an dieser Stelle höchstens vier Meter breiten Straße, die von sehr hohen Fichten umsäumt war. Moosfeuer fiel erst jetzt auf, dass sie mitten im Wald waren. Er tippte auf den Schurwald, der das Rems- vom Filstal trennte. Zehn Meter vor der Kurve querte ein schmaler Pfad die Straße, der auch bei diesem Wetter benutzt wurde, wie die Fußspuren im Schnee zeigten. Der Schneefall wurde immer dichter.
„Das ist einzig und allein Ihre Schuld!“
Moosfeuer beschloss sich nicht weiter einschüchtern zu lassen:
„Absurd! Ihr Fahrstil ist unverantwortlich. So jemand wie Sie dürfte nicht auf öffentliches Gelände gelassen werden.“
„Schnauze, Alter!“
Moosfeuer war erschreckt, zugleich jedoch beruhigt: Wer sein Feuer verbal verschoss, würde nicht so leicht tätlich werden, so sein Gedanke. Jetzt hieß es in die Offensive gehen:
„Kultur, junger Mann, Kultur: Ist dies auch Ihnen das die Zeiten Perennierende und daher a priori Gegenwärtige oder vielmehr nur ein Statussymbol, wie dies Marken-T-Shirts für Adoleszenten sind?“
Der Chauffeur zuckte zusammen: wie vom Donner gerührt! Wieder glaubte Moosfeuer rote Blitze in seinen Augen zu erkennen. Der promovierte Taxler warf sich vor seinem Fahrgast in den Schnee und heulte zum Steinerweichen beziehungsweise Schneeschmelzen:
„Verzeih mir, du weiser Mann! Ich bin ein nichtswürdiger Wurm, der nicht einmal verdient hat, den Staub zu fressen, über den dein linder Atem wehte.“
„Jetzt übertreiben Sie ein klein wenig, Herr Doktor. Ich kann mich übrigens nicht erinnern, Ihnen die vertrauliche Form des Du angeboten zu haben. Und nun ermannen Sie sich!“
„Sie haben vollkommen Recht. Mein Benehmen ist völlig indiskutabel. Ich werde mich sogleich an die Arbeit machen, den Wagen wieder flott zu bekommen.“
Der Chauffeur sprang hoch und klopfte sich den Schnee von den Kleidern, während Moosfeuer mit würdevollem Blick seinen Homburg zurechtrückte, den Knoten des Schals neu richtete und im Übrigen die Bemühungen des jungen Mannes mit Skepsis verfolgte. Nun waren vor lauter Schneeflocken der Himmel und die Bäume kaum noch zu sehen. Selbst das gestrandete Taxi, an dem der Chauffeur allerlei Aktivitäten entfaltete, war aus drei Metern Entfernung nur noch wie durch einen geräuschdämmenden Vorhang wahrzunehmen. Die Zeit verging, während Warndreiecke platziert, ein Wagenheber aus- und wieder eingepackt sowie ein Abschleppseil an das Gefährt angebracht und von ihm wieder entfernt wurde. Moosfeuers Taschenuhr zeigte vier Uhr.
Er war im Begriff, seinen Zweifeln am Bergungserfolg Ausdruck zu verleihen, als er bemerkte, wie sich vom Waldpfad eine verhutzelte Gestalt mit hastigen Schrittchen näherte:
„Woronesch 1942, ich kann euch sagen.“
Moosfeuer begrüßte den schwitzenden Mann und fragte ihn, ob er sich wohl hinter das Steuer setzen könnte, während er und der Chauffeur schöben, doch der Alte erwiderte nur atemlos:
„Der Iwan, ich kann euch sagen, der versteht keinen Spaß.“
Mit diesen Worten ließ er die beiden stehen und setzte seinen geheimnisvollen Nachtmarsch fort.
„So ein Trottel“, entfuhr es dem Chauffeur und diesmal widersprach ihm Moosfeuer nicht.
„Wenn der verdammte Schnee nicht wäre, wäre das Ganze ja gar kein Problem“, behauptete der Fahrer. „Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als die Taxizentrale zu verständigen. Die schicken jemanden her, der uns herauszieht.“
„Wir haben uns die Suppe selbst eingebrockt und sollten sie nun auch alleine auslöffeln“, beeilte sich Moosfeuer einzuwenden.
Bevor noch der Chauffeur, dem dies ebenso seltsam wie unrealistisch vorkam, etwas entgegnen konnte, war aus der Richtung des Waldpfades grölender Gesang zu vernehmen:

ich hör ein lied.
kennst du die bahn?
ich schau mir gern
’ne sendung an.

das hat er gut gemacht
der dichter, dichter, dichter,
wie er das ich und das du
in zusammenhang gebracht.

das lied ist gut,
es prägt sich ein.
es wird schon bald
ein evergreen sein.

„N’Abend, die Herren, ick bin der Heinz.“
Der Fremde, ein etwas verkommen wirkender Hüne mit zotteligen roten Haaren und Vollbart, der sich durch einen dick gepolsterten Fleckenmantel mit Kaputze gegen die Kälte schützte, trug eine brennende Stalllaterne vor sich her, die er an einem Stab befestigt hatte.
„Angenehm, Hadrian Moosfeuer.“
„Dr. Armin von Zeeden-Post. Freut mich Ihre Bekanntschaft zu machen.“
„‘N richtijes Sauwetter, nich wah?“, lallte Heinz, der offensichtlich sternhagelvoll war. Er stank nach Schnaps und seine großporige Nase schimmerte violett wie das Nachleuchten eines Spätsommersonnenuntergangs. Dies legte die Vermutung nahe, dass seine aktuelle Verfassung kein Ausnahmezustand war.
„Kann man wohl sagen“, bestätigte Dr. von Zeeden-Post, „und wenn man dann noch mitten in der Nacht im Wald eine Panne hat, ist es besonders ärgerlich. Ob Sie uns wohl ein wenig zur Hand gehen könnten?“
„Warum nicht! Haste vielleicht ’n Schnaps zu besaachter Hand?“
„Tut mir Leid, wissen Sie, ich bin Taxifahrer und da ...“
Heinz’ Gesicht verdüsterte sich augenblicklich, doch da sprang Moosfeuer flugs in die Bresche:
„Ich bin zuversichtlich, hier aushelfen zu können. Würden Sie bitte die Freundlichkeit besitzen, den Kofferraum zu öffnen, Herr Dr. von Zeeden-Post?“
Der Chauffeur folgte aufs Wort. Moosfeuer stellte die Geheimzahl am Schloss seines Koffers ein und öffnete ihn. Zwischen fein säuberlich übereinander gelegten Hosen und Hemden lagerte eine in Papier eingeschlagene Flasche.
„Wollen mal sehen, ob wir da nicht etwas Passendes haben“:
Mit diesen Worten überreichte er Heinz das noch in braunes Papier verhüllte Getränk und verschloss wieder Koffer und Kofferraum.
Heinz’ blaue Augen weiteten sich freudig: „Mein lieber Herr Jesangsverein, Armagnac 1967. Edel jeht de Welt zujrunde. Komm an mein Herz, werter Spender und lass dir küssen!“
Moosfeuer wehrte die ihm angetragenen Zärtlichkeiten behutsam ab: „Lassen Sie’s nur gut sein! Hauptsache, er mundet Ihnen.“
Indessen, als Heinz die Flasche hastig entkorkte und in einem Zuge zur Hälfte leerte, erlitt Moosfeuer doch eine Art Kulturschock. Was da soeben in zwanzig Sekunden durch eine offensichtlich völlig ungebildete Speiseröhre geschüttet wurde, hätte ihm gereicht um mindestens einen ganzen Monat abendlichen Eusebia-Esslinger-Dokumentenstudiums würdig zu umrahmen.
Heinz verschloss den Rest des unverhofft erlangten Schatzes sorgfältig, steckte ihn in seine große Hosentasche und spuckte sich in die Hände: „Na, denn ma ran an de Buletten! Setz dir ans Steuer und wirf de Kiste an, Kolleje!“
‚Kollege? Dieser Suffkopf?’
Der Chauffeur bezweifelte zwar den Erfolg dieser jeder Sorgfalt in der Vorbereitung entbehrenden Aktion, betätigte aber dennoch den Zündschlüssel. Heinz drückte Moosfeuer lächelnd die Laterne in die Hand und trottete gemächlich zum linken Hinterrad. Dort suchten und fanden seine Füße festen Halt auf beiden Seiten der Böschung des Bächleins. Vor den ungläubigen Blicken der anderen hob er das Taxi hoch, so als wäre es aus Styropor gewesen, und schob es zurück auf die Fahrbahn.
Moosfeuer fand als erster die Sprache wieder: „Das ist ja schier unglaublich! Sie verfügen über geradezu titanische Kräfte. Was haben Sie denn früher gemacht, bevor . . . ich meine vor Ihren Wanderjahren?“
Heinz genoss die Bewunderung der anderen: „Bis vor drei Jahren war ick Taxifahrer wie der Doktor von Posten.“
Der Chauffeur war zu eingeschüchtert, als dass er gewagt hätte, Heinz bezüglich seines Namens zu berichtigen.
„Dann ham se mir aber rausjeschmissen wejen meine ‚spirituelle Neijungen’.“ Bei den beiden letzten Worten grinste er schelmisch. „Vorher war ich Professor an der Valter-Wecken-Sporthochschule in Rudersberg im Fachbereich Bodybuilding.“
„Das erklärt natürlich einiges“, bemerkte Moosfeuer, „Aber aus welchem Grunde haben Sie diese doch sicherlich sehr interessante Tätigkeit aufgegeben, Herr Heinz?“
„Darüber möcht ick lieber nich sprechen.“
„Dies haben wir selbstverständlich zu respektieren. Bitte entschuldigen Sie meine Neugier!“
Der Chauffeur schlug vor die Fahrt nun fortzusetzen und bot Heinz an ihn mitzunehmen, was dieser nach einem kurzem Blick auf den unvermindert starken Schneefall auch annahm. Inzwischen war es bereits kurz nach halb fünf. Moosfeuer urteilte für sich, die schwierige Situation durch bedachtes Handeln geschickt gemeistert zu haben, was ihn mit einem gewissen Stolz erfüllte. Dennoch hoffte er, dass die Reise nun bald in einem wohl temperierten Schorndorfer Hotel ihren krönenden Abschluss fände.
Um dem Riesen die nötige Beinfreiheit zu geben, schob der Chauffeur den Beifahrersitz nach vorne und Moosfeuer musste Heinz den rechten hinteren Platz überlassen und mit dem engeren Sitz hinter dem Fahrer vorlieb nehmen. Noch mehr jedoch als dies minderten Moosfeuers ohnehin sehr beschränkte Reisefreude die erneuten Zudringlichkeiten des betrunkenen Fahrgastes. Dieser nämlich legte seine Pranke auf den rechten Oberschenkel seines Nachbarn und drückte denselben mit freundschaftlicher Kraft, was in Moosfeuers Mimik eine unglückliche Mischung von Restdankbarkeit, Qual und Ekel erzeugte, die Heinz in seinem Zustand allerdings nicht mehr wahrnehmen konnte.
„Echt wahr, Hartmut, du biss nich in Schnabbs aufzewiejen“, lobte der Wanderer den Armagnac-Spender und hauchte ihm dabei eine Melange aus den Dämpfen der verschiedenen Alkoholika ins Gesicht, die er in letzter Zeit zu sich genommen hatte.
Moosfeuers Pein schien kaum noch zu steigern. Er war weiß Gott tolerant – « Chacun à son goût » war seit jeher seine Devise gewesen. Aber gerade die Verwirklichung dieses ihm wahrhaft sozial dünkenden friderizianischen Prinzips war nur durch ein Optimum an Distanz zwischen den Individuen zu verwirklichen. Vorsichtig versuchte er durch Hochziehen der rechten Schalseite wenigstens eine kleine Geruchsbarriere zu errichten, doch dies nützte nicht viel. Er wollte Heinz auf keinen Fall durch abweisendes Verhalten kränken und schützte daher mit halb geschlossenen, aber freundlich lächelnden Augen Müdigkeit vor, um seine Einsilbigkeit verständlich zu machen. Konsequent blickte er gerade aus und atmete nur ganz flach durch die linke Mundhälfte, auf dass die Geruchsorgane so wenig wie möglich aktiviert würden. Trotzdem begann allmählich sein Magen zu rebellieren.
Da fiel das Scheinwerferlicht plötzlich auf zwei Gestalten, die sich in dieselbe Richtung bewegten wie das Taxi. Moosfeuer erkannte sofort, dass sich hier eine großartige Chance bot: zu sozialem Engagement, vor allem aber zur Änderung der Situation:
„Halten Sie an, Herr Dr. von Zeeden-Post! Die beiden Herrschaften sind vielleicht in Not.“
Das Taxi hielt neben den Personen an, einer gewiss über neunzig Jahre alten Dame, die in in einem Rollstuhl saß, und einem Begleiter, der zumindest die siebzig überschritten hatte. Moosfeuer sprang aus dem Auto – endlich frische Luft!
Neues Leben begann durch seine Adern zu fließen. Er stellte seine beiden Mitfahrer vor und erkundigte sich: „Können wir Ihnen helfen?“
Der Herr präsentierte die Dame als „Lady“ Theresia Göbel und sich selbst als ihren Butler Jakob Maier, genannt „James“.
„Wir nehmen Ihr Angebot dankend an.“
Bevor er weitere Erklärungen abgab, hob er Frau Göbel aus dem Rollstuhl und setzte sie auf den Beifahrersitz. Der Rollstuhl wurde zusammengeklappt und konnte trotz Moosfeuers Gepäcks noch im Kofferraum untergebracht werden. Die übrige Sitzordnung ergab sich wie von selbst: James setzte sich nach rechts hinten um in Reichweite der Lady zu sein. Vom großen Heinz konnte man schlecht verlangen sich in die Mitte des Rücksitzes zu klemmen, weshalb schließlich dem darüber in stille Verzweiflung fallenden Moosfeuer dieser Platz zuzuweisen war. So großartig die Menschheit als Idee auch war: Wohler fühlte sich Moosfeuer, wenn er allein sein konnte.
Immerhin verschaffte der Bericht des Butlers Moosfeuer eine Rechtfertigung, sich ohne unhöflich zu sein von Heinz ab- und James zuzuwenden:
„Die Lady liebt winterliche Nachtspaziergänge, müssen Sie wissen. Aber diesmal haben wir völlig die Zeit vergessen. Wir waren querfeldein gegangen und als uns bewusst wurde, wie spät es schon war, hatte der Neuschnee unsere Spuren beseitigt, so dass wir Stunden brauchten, um wieder zur Straße zurückzufinden.“
Die alte Dame begann heftigst zu husten.
„Hoffentlich haben Sie sich nicht erkältet, Lady!“
Moosfeuer schloss sich diesem Wunsch an und berichtete von der Panne (wenngleich nicht von ihrer Ursache) und dass das Ziel ein Hotel in Schorndorf sei.
„Haben Sie dort reserviert?“
„Nein.“
„Dann riskieren Sie aber, den Rest der Nacht auf der Straße zu verbringen, Herr Moosfeuer.“
Die alte Dame sagte nichts, machte aber mit ihrem dürren linken Zeigefinger eine Geste, die James den drei Herren als Einladung in ihrem Haus zu übernachten übersetzte. Moosfeuer war froh darüber und nahm freundlich dankend an, während der Chauffeur und sein Exkollege ebenso verbindlich ihren Verzicht auf das noble Angebot erklärten und auf ein Taxifahrerheim ganz in der Nähe von Schorndorf verwiesen, in dem sie problemlos würden unterkommen können. Als der Butler meldete, man sei angekommen, bezahlte Moosfeuer den Fahrer großzügig und ließ zu guter Letzt noch zwei gut gemeinte, jedoch äußerst übel riechende Wangenküsse von Heinz über sich ergehen.