Erzählt

Der Ausverkauf Deutschlands

     
Die Deutschen rangieren im europäischen Vergleich der Fortpflanzungsbereitschaft auf einem der hintersten Plätze. Ausländer, wenn sie was mit(ein)bringen, ja – aber Sozialtouristen und sonstige Schmarotzer? No go! Doch dass das deutsche Volk einfach ausstürbe, kommt aber auch nicht in Frage! Keine ganz einfache Situation; da ist politische Kreativität gefragt.
– Ein leicht überarbeiteter Ausschnitt (Finalversion IV) aus dem Romanfragment „Herrn Hadrian Moosfeuers allmählich schwindendes Weltbürgertum“

       
Der Ausverkauf Deutschlands

In den Zwanzigern des 21. Jahrhunderts, in einem Gemeindesaal irgendwo in Deutschland. Es herrscht Wahlkampf. Drei deutsche Remigranten und ihr italienischer Freund beschlossen, Geschichte zu machen, um ihren diskutablen Vitae einen Anstrich von Bedeutsamkeit zu verleihen. Einer von ihnen namens Hadrian Moosfeuer ergriff das Wort, indem er mit großer Geste auf einen zweiten deutete.
„Dieser Mann, der Generalsekretär der PdO, der Partei deutscher Ortsgenossen, Herr Herbert Möller, gab mir meine Geschichte zurück, aber diese ist für mich eben nur eine Geschichte oder ganz und gar – Geschichte.“
Verständnisloses Geflüster der Zuhörer.
„In unserer heutigen Gesellschaft wird von Ihnen verlangt, dass Sie Geschichte haben; ohne einen respektablen Lebenslauf sind Sie nichts und – ex nihilo nihil fit! – werden Sie auch nichts. Ich habe von Herbert Möller erfahren müssen, was und wer ich einmal war, denn das konnte ich aus meiner aktuellen Persönlichkeit nicht rückschließend herleiten. Also hätte ich in der Vergangenheit auch ein ganz anderer gewesen sein können als der, der ich tatsächlich war – also ist meine Vergangenheit für mein heutiges Leben ohne jede Bedeutung. Die Vergangenheit ist tatsächlich vergangen.
Daraus folgt ein Weiteres: Wir sind unseren Vorfahren nicht zu Dank verpflichtet. Sie setzten uns in diese Welt, doch dies war allein ihre Entscheidung und nicht mit uns abgesprochen. Dennoch ist es richtig, dass für sie im dritten Lebensalter gesorgt wird und dafür hat meine Partei auch ein grundsolides Konzept entwickelt. Wir sind nämlich keine Unmenschen, ganz im Gegenteil!
Die anderen Parteien geben vor, etwas für unser Land zu tun beziehungsweise tun zu wollen. Aber sehen Sie doch nur einmal an, was sie tun oder – angeblich – gern tun würden!
Die Roten fordern Gerechtigkeit und soziale Sicherheit. Schön! Und für wen? Für den kleinen Mann, für den einfachen Rentenversicherungszahler. Wozu, frage ich, und für wen zahlt er denn in die Rentenversicherung ein? Angeblich für die noch lebenden Generationen seiner Eltern und Großeltern. Dabei brauchen die sein Geld gar nicht.“
Empörte Zwischenrufe aus dem Publikum.
„O ja, meine Damen und Herren, Sie hören ganz richtig! Denn wenn Sie das wirklich verbrauchen würden, was in diesem Land heutzutage beim Staat, im Handel und in der Industrie durch Ihre Arbeit an Werten angesammelt wurde, könnten Sie alle bis zu ihrem seligen Ende ein Leben in Saus und Braus führen.“
„Egoist, Kinderhasser! An das Leben von denen, die nach dir kommen, denkst du wohl gar nicht!“
„Dieser Vorwurf, meine Damen und Herren, lässt mich kalt. Die kommenden Generationen haben kein Leben, sonst wären sie ja schon da. Wozu soll man Opfer bringen, wenn deren Nutznießer gar nicht existieren, geschweige denn, Ansprüche anmelden! Es ist absurd, wenn die Grünen also immer wieder den Spruch daherbeten, wir hätten die Erde von unseren Kindern nur geliehen! Die Schwarzen wiederum wollen das ungeborene Leben schützen – warum denn nicht gleich auch noch das ungezeugte? Die künftigen Generationen werden wie Bleigewichte an unsere Brieftaschen gehängt und ihnen kann man dabei noch nicht einmal einen Vorwurf machen.“
„Und was ist mit mir? Wer zahlt einmal meine Rente und gar erst meinen Kindern?“, wollte ein junger Arbeiter wissen.
„Der Staat, in dem Sie im Alter leben werden, lieber Mitbürger, beziehungsweise der für Ihr Wohngebiet die territoriale Treuhänderschaft übernommen haben wird. Frankreich vielleicht oder Polen, ich weiß es nicht. Deutschland wird sich dann wohl schon an die Treuhandgesellschaften der Nachbarstaaten und internationaler Organisationen übertragen haben, bevor es schließlich vollends aufgelöst wird.“
„Cool! Der Typ ist geil. Deutschland ruhe sanft!“ Die Stimme schien einem Jugendlichen zu gehören. Doch die ablehnenden Kommentare überlagerten vereinzelt hörbaren Applaus: „Sie geschichtsvergessener Dampfplauderer, Sie!“ – „Vaterlandsverräter!“ – „Die anderen Staaten haben doch überhaupt kein Interesse daran, für uns zu bezahlen.“ – „Die verstehen auch unsere Mentalität nicht.“ – „Steckt den Kerl so schnell wie möglich ins Irrenhaus!“ usw.
Moosfeuer holte tief Luft und sortierte die Einwürfe im Geiste in drei Gruppen:
a) die ihm gleichgültigen: auf die hatte er keine Lust einzugehen
b) diejenigen, die ihm im Hals einen Kloß erzeugten: auf die konnte er nicht reagieren
c) die ernsthaften: an die versuchte er anzuknüpfen.
Möller bemerkte, dass Moosfeuer zu schwitzen anfing, er aus seinem Rhythmus zu geraten und an Selbstsicherheit zu verlieren drohte, weshalb er vortrat und mit einem aufmunternden Lächeln das Mineralwasserglas des Redners füllte. Moosfeuer dankte es ihm mit einem flüchtigen Seitenblick, trank einen Schluck und ging dann wieder in die Offensive.
„Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, versuchen Ihre Bedenken zu entkräften ...“
„Buh, halt’s Maul, du Arsch!“ – „So lasst ihn doch wenigstens reden!“ – „Ich möchte hören, wie er seinen Standpunkt begründet!“ Die aggressiv intoleranten Zwischenrufe schienen der bisher eher schweigsamen Gruppe der an Information interessierten Bürger nun den Mut zu geben, Präsenz zu zeigen.
Eine aus den hinteren Reihen der Zuhörerschaft anfliegende faule Tomate verfehlte nur knapp Moosfeuers linkes Ohr, so dass dieser zusammenzuckte und Möller Heinz und Osvaldo einen Blick zuwarf, der bedeutete: ‚Tut was!’ Die beiden hatten darauf nur gewartet und setzten sich sofort in Bewegung. Aus dem Publikum waren empörte Stellungnahmen über die Gemüseattacke zu vernehmen. Moosfeuer hatte seine souveräne Haltung sehr schnell wieder gewonnen, doch nun wollten alle wissen, ob und wie die Veranstalter auf den Angriff reagieren würden. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, denn aus dem hinteren Bereich des Saales drangen sogleich unangenehmes Geschrei und von heftigen körperlichen Aktivitäten zeugende Geräusche noch vorne. Unter „Aua!“-Gekreisch und vulgären Verwünschungen der Betroffenen einerseits sowie beifälligem Applaus der Mehrheit der Anwesenden andererseits wurden die schwarz gekleideten und kahlköpfigen Randalierer aus dem Versammlungslokal hinausbefördert.
„Meine Damen und Herren, ich bitte Sie diesen Zwischenfall zu entschuldigen. Gestatten Sie mir nun, im zweiten Anlauf auf Ihre Argumente einzugehen.“ Moosfeuer hielt kurz inne um seine Worte gut zu wägen. „Sie stellten fest, die anderen Staaten oder internationale Organisationen hätten kein Motiv den Lebensunterhalt unserer künftigen Rentner zu sichern. Dazu sind mehrere Aspekte bedenkenswert.
Wie Ihnen bekannt ist, befürworten die heute in unserem Lande noch maßgeblichen Parteien in ihrer Mehrheit nicht, dass der Bevölkerungsrückgang der deutschstämmigen Bevölkerung – ich nenne sie die Ethnodeutschen – durch eine dem entsprechende Zuwanderung zumindest ausgeglichen wird. Unsere Leute sind auf der anderen Seite Touristikweltmeister, in jeden Winkel der Erde schwärmen wir aus. Wie lassen sich diese Tendenzen nun kombinieren? Dies liegt auf der Hand, meine lieben Mitbürger: Indem wir ihnen einfach freien Lauf lassen! Deutschland wird also als staatliche Gemeinschaft über kurz oder lang ohnehin aussterben, nach seriösen Berechnungen spätestens bis zum Jahr 2100. Doch das macht nichts, denn die Ethnodeutschen lieben – auswärts! – den Kontakt und durchaus auch die Assimilation mit den anderen Kulturen. Verwirklichen wir also auf neue Weise einen alten Traum unseres Volkes und tragen deutsches Wissen und deutsche Kultur in alle Welt!“
Die letzten Worte formulierte der Redner nicht ohne ein gewisses Pathos, was seine Wirkung bei Teilen des Publikums nicht verfehlte: „Klingt sonderbar, ist aber nicht dumm.“ – „Wie werden die anderen Staaten darauf reagieren?“
„Dies ist in der Tat eine sehr wichtige Frage. Betrachten wir ihre Außenpolitik gegenüber Deutschland. Sie ist naturgemäß uneinheitlich. Wir können Machtrivalität feststellen, Kooperationsbereitschaft mit einem wirtschaftlich außerordentlich wichtigen Land und nicht zuletzt eine gewisse Bittstellerhaltung. Nun, mit seiner Schrumpfung wird Deutschland auch wirtschaftlich und politisch an Bedeutung einbüßen.
Hier greift nun das Programm der Partei deutscher Ortsgenossen – die Agenda Null-einhundert: Bevor unser Land nach ebenso verzweifelten wie vergeblichen Anstrengungen, das Unvermeidliche doch noch abzuwenden, seinen Nullpunkt im Jahr 2100 in einem Zustand alles erfassenden Siechtums erlebt, muss eine Politik Platz greifen, die das feststehende staatliche Aus als Chance für die immer mehr abnehmende Zahl der Bürger begreift und beherzt ergreift!“
Diese Formel löste trotz ihrer Griffigkeit eine Reihe von Nachfragen aus, über die Moosfeuer gottfroh war, boten sie ihm doch die Gelegenheit, seine Ideen in noch präziserer Gestalt unters Volk zu bringen. Zunächst griff er die Frage eines Herrn auf, der genauer wissen wollte, welche Reaktion des Auslandes er auf die von ihm propagierte Politik des staatlichen Schwundes erwarte.
„Wie ich bereits andeutete, ist der Wegfall eines lästigen Konkurrenten und immer unattraktiver werdenden Wirtschaftspartners für die anderen Staaten kein Grund zur Trauer. Er wird für sie im Gegenteil sogar zu einem Grund der Freude, wenn damit der Gewinn an wirtschaftlich gut erschlossenen Gebieten und hochqualifizierten Arbeitskräften mitsamt ihres Knowhows verbunden ist. Deshalb plädiert meine Partei, die Partei deutscher Ortsgenossen, dafür, frühzeitig, solange die Preise noch gut sind, mit dem Verkauf unserer Wirtschaft und Kultur zu beginnen und deshalb erkläre ich das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert des nationalen Ausverkaufs Deutschlands!“
Nun herrschte Stille im Saale, eine Ruhe, wie sie sich nur verbreitetet, wenn etwas ganz und gar Unglaubliches oder Erschütterndes verkündet worden ist.
„Die PdO tritt dafür ein, dass wir einen guten Preis machen. Dieses Guthaben muss als Rentenfonds ausreichen, bis der letzte noch lebende Ethnodeutsche eine neue Heimat gefunden hat. Die Bundesländer verteilen wir an das jeweils angrenzende Ausland. So wird das Elsass Baden-Württemberg zu seinem Gebiet hinzufügen, die Alemannen werden sich sicher gut verstehen. Österreich, so es sich unserer Bewegung anschließt, wird dem Alto Adige angegliedert, während mit der Bezeichnung Stato libero für Italiens nördlichste Region an Bayern liebevoll erinnert werden soll.“
„Ja aber wir Bürger sind darauf doch noch gar nicht vorbereitet. Muss es da in den neu zusammengesetzten Regionen nicht unweigerlich zu Konflikten kommen?“
„Wenn nichts getan wird, um das Notwendige vorzubereiten, zweifellos! Genau deswegen muss jetzt ein politischer Paradigmenwechsel stattfinden, der die interkulturelle Kompetenz der Bürger fördert und dafür sorgt, dass zumindest jeder Unterdreißigjährige die Sprache seines Nachbarlandes beherrscht und sie seinen Kindern – soweit vorhanden – als Zweitsprache schon im Vorschulalter vermitteln kann.“
„Warum kämpfen Sie nicht für ein vereintes Europa, statt ein derart unrealistisches Ziel zu verfolgen?“
„Aus demselben Grund, weshalb Sie unser Programm für unrealistisch halten: Wer darauf wartet, bis die anderen ihre staatliche Souveränität preisgeben, kann dies bis zum Jüngsten Tag tun. Wir können nicht immer nur auf die anderen zeigen, sondern müssen selbst den Anfang machen. Und während die anderen weiterhin an überholten Strukturen festhalten, wird es bereits die ersten Bürger eines vereinten Europas geben: die über alle Länder des Kontinents verstreuten Ethnodeutschen, Botschafter einer Zivilisation ohne Staat, aber mit einem reichen kulturellen Erbe! Meine Damen und Herren, treten Sie mit uns ein für eine neues Carpe diem in der Politik, für eine humane Vision des Gürtel-weiter-Schnallens! Ich bedanke mich für Ihre Geduld und Ihre Aufmerksamkeit.“
Die Stärke des Applauses überraschte Moosfeuer angenehm. Ob sich in ihr eine Zustimmung zur Politik seiner Partei oder nur eine freundliche Geste seiner Person gegenüber ausdrückte, konnte und wollte Moosfeuer in diesem Augenblick der Zuversicht nicht beurteilen. Der Beifall wurde nun immer intensiver und nahm, durch die Initiative Einzelner, allmählich einen Rhythmus an, wie man dies von gelungenen Theater- oder Konzertabenden her kennt. Moosfeuer war gerührt und verbeugte sich.
„Herr Moosfeuer“, meldete sich ein hagerer Mittfünfziger zu Wort, „mein Name ist Manfred Togo. Ich bin Reporter vom Münchner Morgen. Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“
Moosfeuer schmunzelte. Sein alter Freund Manfred hatte immer zu ihm gehalten. Stets hatte er alles in seiner Macht Stehende getan, um ihn aus schwierigen Lagen herauszuhauen, und seit kurzem unterstützte er ihn auch bei seinen politischen Plänen. Eine euphorische Stimmung ergriff von Moosfeuer Besitz, ließ ihn schwindeln.
„Bitte, Herr Togo, stellen Sie Ihre Frage!“
„Was ist Ihr Erfolgsrezept, Ihre Lebensphilosophie?“
Diese Frage hätte er besser nicht beantwortet…