Erzählt

Das Telefonat


Der folgende Text ist ein Ausschnitt aus dem ersten Kapitel des Romanfragments “Herrn Hadrian Moosfeuers allmählich schwindendes Weltbürgertum”. Nachdem er seiner Gattin Madeleine eröffnet hat, die Familie verlassen und ins Altersheim ziehen zu wollen, vergeht wenig Zeit, bis sich Hadrian Moosfeuer tatsächlich in einem Heim wiederfindet, einem für seelisch Kranke allerdings, und dies anscheinend nicht ganz ohne Zutun seiner Frau. Der vormalige Philosophielehrer fühlt sich in der neuen Umgebung jedoch gar nicht so unwohl, da der Anteil älterer Herrschaften an den Patienten beträchtlich ist. Hier stößt er auf den Mythos der legendären Eusebia Esslinger, wegen deren Depressionen das “Hotel”, wie die Insassen die psychiatrische Klinik etwas verharmlosend nennen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem reichen Weinhändler erbaut wurde. Wie die meisten Anstaltsbewohner arbeitet auch Moosfeuer bald an ‘der einzig wahren’ Biographie Eusebia Esslingers.
In einer eMail an seinen Freund Manfred berichtet Hadrian Moosfeuer von dem Telefonat, das der Anlass für seine Einweisung in die Nervenheilanstalt gewesen ist.


Du möchtest wissen, wie Madeleine zur Notwendigkeit meines Aufenthalts in Bad Weildorf steht: Nun, sie befürwortet ihn: definitiv seit Mai. Damals nahm sie an einem Kongreß in Hamburg teil, während mein Bruder Jonas und ich für unseren pflegebedürftigen Vater einen Heimplatz in München suchten.
Am Abend jenes Mittwochs, als wir mit unseren Bemühungen in einem sehr schönen Seniorendomizil Erfolg hatten, hatte ich einen dieser unwiderstehlichen Anfälle kregler Humorigkeit, wie du sie an mir in Situationen kennst, wenn ich Dinge schließlich hinter mich gebracht habe, deren Erledigung mir zuvor unsicher schien und mich daher belastete. In dieser Stimmung beging ich den Fehler, Madeleine anzurufen. Ich versuche, den Verlauf des Gesprächs zu rekonstruieren:

Ist dort das Hilton?
Hadrian Moosfeuer am Apparat. Könnten Sie mich bitte mit meiner Frau verbinden?
Nein, die Zimmernummer ist mir leider nicht bekannt, aber vielleicht hilft Ihnen die Information weiter, daß sie an dem Kongreß Kulturgeschichte des Rheumatismus teilnimmt.
Richtig, Frau Professor Madeleine Moosfeuer-La Hague. Ja, ich warte. –
Madeleine? C’est moi, Hadrian.
Danke, mir geht es prächtig. Wie läuft dein Kongreß?
Was du nicht sagst! Verfahrensfragen, wie langweilig! Aber du bist dergleichen ja gewöhnt. Ist wenigstens dein Arbeitskreis interessant?
Rheumaheilzauber und Fratriarchat bei den Prä-Inuits, ah ja. Sicherlich ein Thema, das dir für deine eigene Arbeit viele Anregungen geben kann.
Ach so, du bist die Referentin, wie entsetzlich dumm von mir!
Ja, Chérie, selbstverständlich habe ich mich darum gekümmert. Heute nachmittag war Besichtigung im Heim. Es wird Papa dort bestimmt gefallen.
Nein, nein, überhaupt nicht. Die Leiterin, die uns die verschiedenen Einrichtungen gezeigt hat, ist eine sehr sympathische Dame um die vierzig. Auf mich macht sie einen äußerst engagierten und kompetenten Eindruck. Während des Rundgangs ist mir auch aufgefallen, mit welcher Liebenswürdigkeit sie den alten Leuten begegnet.
Ja, natürlich habe ich mich auch anderweitig erkundigt. Das Haus besitzt in der Tat einen vorzüglichen Ruf, der sich ganz mit Jonas’ und meinen Eindrücken deckt.
Das stimmt. Es ist wirklich sehr groß. Aber in einer Großstadt geht es wohl nicht anders. Übrigens betrachte ich dies eher als einen Vorteil, denn ein so vielfältiges Angebot, wie du es dort vorfindest, könnte ein kleineres Stift wohl schwerlich auf die Beine stellen.
Ach, Madeleine, was heißt da Krankenhausatmosphäre! Die architektonischen Sünden der siebziger Jahre, wem sagst du das! Aber in dieser Hinsicht sind die anderen Heime auch nicht besser, eher noch schlechter. Und vergiß nicht, von eurer Wohnung ist es dann nur ein Katzensprung zu Papa.
Was eure? - Ach so! - - Ja, Madeleine, wie soll ich es dir sagen? –
Also gut: Ich habe mich entschlossen, ebenfalls ins Altenheim zu gehen.
Ich will dich keineswegs auf den Arm nehmen.
Ob ich übergeschnappt bin? Wieso übergeschnappt?
Madeleine, ich bitte dich, bleibe sachlich!
Nein, ich denke, ich bin nicht verkalkt, und ich entsinne mich auch noch bestens der Tatsache, daß ich erst achtundvierzig bin. Was heißt da überhaupt ...
Was heißt da überhaupt ‘erst’? Der Volksmund ...
Vielleicht läßt du mich freundlicherweise einmal ausreden!! -  Der Volksmund, liebe Madeleine, sagt: Man ist so alt, wie man sich fühlt. Und ich fühle mich alt! - Madeleine? - Bist du noch dran?
Also wirklich, Madeleine, das ist ja wohl das hinterletzte Argument! Du weißt ganz genau, daß wir glücklicherweise auf das bisschen, was ich im Monat dazuverdiene, nicht angewiesen sind. Außerdem will ich mich ja beruflich überhaupt nicht zur Ruhe setzen.
Du wechselst ständig das Thema. Vielleicht darf auch ich wieder einmal zu Wort kommen: Alter bedeutet Reife.
Nein, ich will jetzt nicht über Wein reden, Madeleine. Ich gedenke auch nicht über den ‘Wert’ eines Menschen zu diskutieren oder darüber, wann es keinen Wertzuwachs mehr gibt.
Mit den Erfahrungen ist es so eine Sache: der eine steht mit achtundsechzig noch genauso naiv da wie als Teenager, und der andere checkt eben schon in diesem Alter, was - recht besehen - das Leben im eigentlichen ist. Aber insgesamt ist der Durchblick bei den älteren Herrschaften schon größer, weshalb es mich reizt, mit ihnen zusammen zu wohnen.
Also, darüber mach dir bitte mal keine Sorgen! Ich war so frei, dem Heim aus unserem Ersparten ein hübsches Sümmchen zu stiften, und dafür will man bei mir mit dem Mindestalter eine Ausnahme machen. Und trist ist es dort überhaupt nicht. Es gibt eine Cafeteria, ein Bierstübchen, ein eigenes Theater, eine Bocciabahn. Du kannst Kurse belegen, Weißrussisch, Batik, was du willst! Die medizinische Versorgung ist einmalig, denn der Arzt ist gleich im Haus, physikalische Therapie, alles, was einem guttut.
Völlig klar, Madeleine! Natürlich bin ich kein Pflegefall im herkömmlichen Sinne. Ich werde in einem eigenen kleinen Appartement leben, in das ich eine Menge persönlicher Dinge, an denen ich hänge, mitnehmen kann. Ich kann auch selbst kochen. Ich kann mir das Essen aber auch bringen lassen, morgens, mittags und abends.
Siehst du, das ist jetzt einmal eine gute Frage. Den Anstoß gab eine Bemerkung der Heimleiterin, die Menschen planten ihre Schulausbildung, ihren Beruf, aber niemand mache sich Gedanken darüber, was danach kommt. Die Katastrophe sei da schon vorprogrammiert. Und wer den Schritt von der eigenen Wohnung ins Heim erst tut, wenn er pflegebedürftig ist, kann sich meistens nicht mehr an die neue Umgebung gewöhnen. Kurzum: Je früher man sich mit der Gestaltung des Lebensabends beschäftigt, um so wahrscheinlicher ist es, daß er gelingt.
Das ist blanker Unsinn, Madeleine! Kein Mensch kennt den Tag, an dem ihm die Stunde schlägt. Wer weiß, vielleicht werde ich in zwei Jahren von einem Auto überfahren. Da ist die Vorstellung für mich sehr tröstlich, daß ich dann, wenn ich in den letzten Zügen liege, denken kann: Hast aber wenigstens einen schönen Lebensabend gehabt.
Es kann überhaupt keine Rede davon sein, mich von dir trennen, Chérie! Wohl noch nie was von Alterssexualität gehört, wie? Hast du schon wieder vergessen, daß du es warst, die gesagt hat, unsere Wohnung sei zu klein und unser ununterbrochenes Aneinanderkleben unterminiere die Beziehung? Immer, wenn wir wollen, können wir uns sehen; ich bekomme meinen eigenen Hausschlüssel, ich bin völlig unabhängig.
Madeleine? Bist du noch dran? Madeleine! So antworte doch!

Am selben Abend noch lachte sie sich einen Naturheilkundler aus dem Aostatal an.
Was soll ich sagen, die Idee einer Lebensgemeinschaft mit Greisen halte ich wirklich für faszinierend, aber natürlich war meine Ankündigung nur ein Scherz. Ich hatte damit gerechnet, daß Madeleine mich so gut kennt, um dies zu wissen! Aber vielleicht nahm sie das Gespräch auch nur zum Vorwand, mich abzuservieren. Du schaust in die Frauen ja nicht rein.
Sie behauptet, ich sei für sie nicht gestorben, aber eine Phase des beiderseitigen Überdenkens unserer Beziehung sei unerläßlich. Sie findet, letztendlich sei es unwichtig, ob ich nur einen Scherz machen wollte oder ob ich es ernst meinte. Auf eine so blöde Idee komme nur jemand, dessen Nerven in einem äußerst angegriffenen und daher behandlungsbedürftigen Zustand seien.
Ich kann mir denken, welche Frage du mir jetzt stellen willst: was Madeleine bei dem Telefonat gesagt hat. Leider erinnere ich nicht mehr daran.

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Der Text, versehen mit einem Leserkommentar, auf eigenleben.jetzt
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