Erzählt

Fundsache und Mordsache


Der folgende Text ist ein Ausschnitt aus dem ersten Kapitel des Romanfragments “Herrn Hadrian Moosfeuers allmählich schwindendes Weltbürgertum”. Nachdem er seiner Gattin Madeleine eröffnet hat, die Famlie verlassen und ins Altersheim ziehen zu wollen, vergeht wenig Zeit, bis sich Hadrian Moosfeuer tatsächlich in einem Heim wiederfindet, einem für seelisch Kranke allerdings, und dies anscheinend nicht ganz ohne Zutun seiner Frau. Der vormalige Philosophielehrer fühlt sich in der neuen Umgebung jedoch gar nicht so unwohl, da der Anteil älterer Herrschaften an den Patienten beträchtlich ist. Hier stößt er auf den Mythos der legendären Eusebia Esslinger, wegen deren Depressionen das “Hotel”, wie die Insassen die psychiatrische Klinik etwas verharmlosend nennen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem reichen Weinhändler erbaut wurde. Wie die meisten Anstaltsbewohner arbeitet auch Moosfeuer bald an ‘der einzig wahren’ Biographie Eusebia Esslingers.
Der Klinikarzt sieht diese Aktivität gerne, passt sie doch hervorragend zur Schreibtherapie, die er Moosfeuer verordnet hat. Einen weiteren psychischen Halt findet dieser in der intensiven elektronischen Korrespondenz mit seinem Freund Manfred, aus der die beiden folgenden eMails stammen.


24. September

Ob ich Zeitung lese? – Na ja, kaum. Ich geb’s zu. Ist ja doch immer dasselbe. Tausch die Namen und so aus und dann hätte der gleiche Schrott doch schon vor zehn Jahren drin stehen können. Ich bin zur Zeit so ’n bißchen auf dem Trip, mich auf das Wesentliche im Leben zu konzentrieren, weißt du, auf die archetypischen Strukturelemente oder Urformen, wenn du so willst. (Dabei weiß ich eigentlich gar nicht, was du so willst.)
Ich habe dir, wenn ich mich recht entsinne, schon erzählt, daß ich gerne laufe. Waldläufe. Das Wetter (Altweibersommer!) macht ja Gott sei Dank super mit. Meine Lieblingsstrecke beginnt oberhalb des Hotels in einem Waldstück. Dann renne ich Richtung Westen (zuerst ein kleines Stückchen auf-, dann abwärts), dorthin, wo später die Sonne untergeht (gern schon ’ne Stunde vorher beginnend). Ja, wie schon gesagt, gibt’s auf der Strecke jetzt viele Lichtungen, aber ich kann das nicht nur negativ sehen. Fiat lux, du weißt schon, et fecit lux!
Renne also heute am späten Nachmittag, schon ziemlich erhitzt, an einer blonden barbusigen Sonnenanbeterin (115D) vorbei, die die winzige Grasnarbe der vierten Lichtung besetzt hält und sich, als sie mich bemerkt, aufrichtet. Sie betrachtet mich derart mißbilligend, als würde sie durch ihren Blick auf mich (zu dem ich sie beileibe nicht genötigt habe!), meinen Schweiß auf sich ziehen und sich mit diesem verunreinigen. Blöde Kuh! Ich laufe weiter.
Und dann war da so was, das wirst du vielleicht komisch finden und denken, na der ...! Klar würde man normalerweise darüber kein Wort verlieren, nicht in erster Linie deshalb, weil das Thema tabu wäre (so schockierend ist es nun gewiß nicht!), aber weil man, auf Grund welcher Kriterien auch immer (die man vielleicht durchaus auch mal hinterfragen sollte!), ein scheinbar unüberwindliches Zögern in sich registriert - aber eigentlich grundlos, irgendwie.
Nun gut, jedenfalls setze ich mich, weil ich ein bißchen erschöpft war, auf einen kleinen weichen Hügel unter eine Tanne – oder war’s eine Fichte? – weiß nicht, bin kein Botaniker. Die Schweißtropfen fallen zu Boden und mein versonnener Blick ebenfalls. (Ich fühlte mich irgendwie mit der Welt ausgesöhnt in diesem Moment.) –
– Mensch, Manfred, soll ich den Brief jetzt einfach wegschmeißen? Du mußt ja sonst was von mir denken! Aber andererseits: Wozu hat man Freunde? Oder: Was ist eine Freundschaft denn überhaupt wert, wenn sie von jeglichen, wenn auch nur vermeintlichen Belastungen verschont werden muß? Weißt du, was ich meine? Erinnerst du dich noch an die Geschichte damals mit Günther Zöller vor dreißig Jahren, an dessen Ballon du den falschen Zettel befestigt hattest? Du meinst, das sei nicht vergleichbar? Du weißt ja noch gar nicht, worum es eigentlich geht, wie willst du denn da Vergleichsmöglichkeiten a priori ausschließen! – Also: Ich wag’s (wenn auch nicht ohne Bedenken)!
– Ja ja: Gib’s nur zu, jetzt lachst du! Du schüttest dich aus, du lachst dich halbtot (was ist das eigentlich?), weil ich immer noch nicht zur Sache komme. O.k. – o.k., ist dein gutes Recht. Wäre ja noch mal schöner, jemandem das Lachen zu verbieten, noch dazu dem besten Freund, der einem geblieben ist! Nee, mein Lieber, das geht schon in Ordnung. Aber – wenn du vielleicht trotzdem weiterhin ...
Na ja – es war halt schlicht Folgendes: Ich blicke zu Boden, auf den Waldboden also, der in unseren Breiten hauptsächlich von herabgefallenen verdorrten Nadeln entsprechender Bäume bedeckt ist, über welche Ameisen (Waldameisen: die großen dunklen) nach ihren eigenen – uns nur schwer nachvollziehbaren Marschrouten – hin- und herkrabbeln. Und eine so ’ne Ameise schleppt was hinter vor sich her, was Größeres, mindestens so groß wie sie selbst. Ich denke, es wird wohl eine kulinarische Kostbarkeit sein (für Ameisen) oder ein wertvoller Baustoff zur Ausbesserung irgendeines Ganges im siebenundzwanzigsten Untergeschoß ihres Haufens, für dessen Erwerb ihr besonderes Lob seitens der Königin winkt.
Mein Interesse war auf jeden Fall geweckt, ich sehe mir die Fracht mal etwas genauer an. Und dann war ich wie vom Donner gerührt.
(Was du vielleicht nicht verstehen kannst. Ich könnt’s dir auch weiß Gott nicht verdenken. Du stehst mitten im Leben. Aber willst du mir es mir jetzt zum Vorwurf machen, daß ich gewissermaßen aus dem Verkehr gezogen wurde? Ich hab’s nicht gewollt und auch nicht beantragt! Sicher, es gab hier und da ein paar Schwierigkeiten, die ich übrigens auch nie bestritten habe. Aber glaubst du, unsere Zöglinge wären weniger beschädigt? Hast du ’ne Ahnung! Um dir vorzustellen, was da teilweise abgeht, da reicht deine kühnste Phantasie nicht aus!)
Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, eigentlich ist die Angelegenheit (unbeschadet – in der Sache – unbegründeter Bedenklichkeiten) ziemlich banal: Die oben erwähnte Ameise schleppte tatsächlich, und da bin ich mir ganz sicher, einen Popel mit sich, einen menschlichen Popel. (Ob von einer Frau oder einem Mann oder gar von einem Kind, könnte ich allerdings nicht sagen.) 
O.k. – Jetzt ist es raus, Manfred. (Ich fühl’ mich nun irgendwie wohler!) Du bist, ich erwähnte es bereits, mein Freund, du wirst mir zuliebe mit Sicherheit nicht clichéhaft reagieren. Du wirst, die besten Voraussetzungen zu meinen Gunsten in Anschlag bringend, fragen, was an dieser Entdeckung (immer angenommen, der Befund wäre überhaupt sicher), allgemein bzw. speziell für mich irgendwie bedeutend sein könne.
Ich sehe mich in der Pflicht stehend und will dir deshalb die Antwort nicht schuldig bleiben. Meine Joggingstrecke mißt vielleicht zehn Kilometer. Wenn du den zeitlichen Faktor noch mit in Rechnung stellst, hätte die bereits mehrfach erwähnte Ameise (man sollte ihr der Einfachheit halber ruhig einen Namen geben, wie wäre es denn beispielsweise mit Gretel?) zu dem Zeitpunkt meines Ausrastens längst in einem der unzähligen unterirdischen Gänge verschwunden sein können. Ich weiß nicht, wie tief diese Kerbtiere sich zu graben vermögen, laß es von mir aus nur zwei Meter sein. Aber ist dir eigentlich bewußt, was, die Tiefe mit multipliziert, sich dadurch an Volumen ergäbe? Und in dieser, relativ zum Rauminhalt des fraglichen Objekts, unendlich großen Masse ist es mir, Hadrian Moosfeuer, beschieden, Gretel beim Raub eines Popels zu entdecken! Das belächelte Tier, die sonst nur allzu oft von der ‚Krönung der Schöpfung‘ mit Füßen getretene Kreatur, hält sich einmal am Menschen schadlos!
Verstehst du jetzt, was ich sagen will? Ist dir überhaupt die Dimension bewußt? Nicht nur die quantitative, die an sich schon ungeheuerlich ist (Stochastik!), sondern vor allem das utopische Element (Zukunft unseres Planeten!), das darin zutage tritt.
Jetzt verlange von mir bitte nicht, eine kriminologischen Ansprüchen genügende Beschreibung eines Popels zu liefern! Auch ohne daß man sich diese Produkte (natürlich übrigens, gar nichts Anstößiges!) in der Regel genauer betrachtet oder gar für spätere Forschungen in einer Vitrine aufbewahrt, hat jedermann (Frauen und Kinder selbstverständlich inbegriffen!) eine hinreichend konkrete Vorstellung von deren Beschaffenheit. Mag sein, daß individuelle Unterschiede nicht zu vernachlässigen sind (aus falscher Scham unterbleiben zumindest in unserem Kulturkreis diesbezügliche Kolloquien). Dennoch ist einem/einer jeden eine intuitive Sicherheit in der Identifikation eines Popels beschieden. Sei es seine Farbe, durch die er sich trotz aller vorstellbarer Varianten vom Braun des Waldbodens abhebt, sei es das Nichtporöse seiner Oberfläche und anderes mehr (hier wüßte jeder aufmerksame Bürger sicher noch Details beizufügen): Man kann sich dabei schlechterdings nicht irren!
Beglückt setze ich meinen Waldlauf fort und gebe mich meinen Gedanken hin. Erst als die Dämmerung einsetzt, mache ich mich auf den Heimweg. Die inzwischen nicht mehr barbusige Mitbürgerin belastet immer noch die bedauernswerten Grashalme der vierten Lichtung (vom Anfang meines Parcours’ her gesehen). Sie registriert mich, doch ich ignoriere sie völlig. (Bin auch gar nicht mehr verschwitzt.) Vielleicht hat Gretel ihr den Popel entwendet; es wäre ihr recht geschehen!


26. September

Schrecklich, nicht? Die arme Nicoletta! Erbarmungslos massakriert! Sie hatte wohl keine Chance. Es gibt ganz ohne Zweifel fürchterliche Menschen. (Sie kann sich das ja nicht selbst angetan haben.) Das Ganze ist so sinnlos! Ich weiß, mein Schlaumeier: Dürrenmatt! Nee, also ich zumindest hab hier noch keinen Einstein entdeckt.
Übrigens: Ich hab’s neuerdings an der Blase. Sehr unangenehm!