Übersicht des Kommentierten
Hans Senninger, „StrandkorbLyrik” (Bairische Nordseelyrik)
Präposition und Welt | Welt der Präposition
Null hoch sieben
Wolfgang Baier, „Khipu“
Sebastian Below: “Somewhere in Nowhere” (2014, 1+2)
Hellmuth Opitz / Johannes Nawrath: „Aufgegebene Plätze, verlorene Posten“
Virtuoser Komiker der Absurditäten des Alttags: Jan-Eike Hornauer, “Schallende Verse”
Das Prinzip Hoffnung: Hans Zengelers Roman “Gestorben wird später”
Annette Hagemann, “china town”
Carlos Ruiz Zafón: “Das Spiel des Engels”
Ich bin 2 Öltanks, “Kurzer Prozess”
Kommentiert
Annette Hagemann, “china town”
15. bis 18. September 2011: Gedicht, Kommentar und Korrespondenz auf fabmuc. Wiedergabe des Gedichts hier mit freundlicher Genehmigung der Dichterin
14. November 2011: Rezension veröffentlicht unter dem Titel Löcher im Schutzschirm. als Beitrag zum Feuilleton von FIXPOETRY.
fast hätte ich den glücksdrachen gekauft
an dem morgen auf dem chinesischen markt
da bauten sie noch die stände auf und schon
hatte ich ihn gesehen: sehr freundlich
sehr entgegenkommend im wind
mit einem großen grinsenden kopf aus papier
oder pappmaché gelockten augenbrauen:
einem kopf aus lachsfarbenem papier
und einem lachsfarbenen schweif
der zwei bis drei meter lang im wind schlug
bereit zum ausritt das konnte man sehen
wir lachten uns an und beinahe hätte ich
ihn mitgenommen: egal zu welchem preis
doch ich war noch nicht soweit für so viel glück
Lothar Thiel sagte am 17. September 2011 um 12:00:
Wir kennen den Drachen aus unseren Märchen als das böse, bedrohliche Ungeheuer, durch dessen Eliminierung furchtlose Recken ihren Mut beweisen können. Der Glücksdrache in Annette Hagemanns Gedicht „china town“ scheint schon per definitionem das Gegenteil jenes perfiden Monsters zu sein. Doch liegt der Unterschied nicht vor allem im Auge des Betrachters? Auch der Glücksdrache ist un-geheuer, un-vertraut, fremd.
Das altgriechische Wort für Glückseligkeit ist εὐδαιμονία. „Eudaimonia“ bedeutet „einen guten Dämon habend“. Der christlich-abendländische Dogmatismus konnte mit solcherart Geist nichts anfangen und hat ihn deshalb buchstäblich verteufelt. Das Erbe dieser Kultur ist unser Bestreben, immer auf Nummer Sicher zu gehen, uns möglichst in allem des Einklangs unseres Fühlens, Denkens und Tuns mit den ‚bei uns‘ anerkannten und gültigen Regeln zu vergewissern. Damit halten wir den un-heimlichen Dämon von uns fern oder versuchen es zumindest.
Aber die ‚modernen Zeiten‘ lassen diesen Schutzschirm zunehmend löchrig werden. Manche entfalten hektische Aktivitäten, die Löcher zuzukleben, andere schauen hingegen mit vorsichtiger Neugier durch sie hindurch, um das ANDERE zu entdecken, auch für sich selbst. „Mut“ in heutiger Zeit ist anders zu definieren als es die Ritter-Ideologie der Märchen und manch ein Bestsellerautor dieser Tage uns weismachen wollen. Sie betrifft die Frage, ob und wie weit wir uns auf den fremden Dämon einlassen und ihn bei und in uns heimisch werden lassen wollen. Sollten wir, bevor wir dies vielleicht tun, erst Gewissheit darüber erlangen, ob es ein guter Dämon, ein Glücksdrache, ist? Können wir dies überhaupt vorher wissen?
Das Zögerliche des lyrischen Ichs – „fast“ (V. 1), „beinahe“ (V. 12) – drückt den Schwebezustand zwischen Offenheit, Mut auf der einen Seite und Besonnenheit auf der anderen wunderbar aus. Das Gedicht führt uns einen Zustand der Überlagerung verschiedener Bewusstseinsstufen und Haltungen mit dem schönsten Bild, das es dafür gibt, vor Augen und dies trägt sicherlich zur Eudaimonia vieler Leser bei. Zu hoffen bleibt, dass noch viele Gedichte von Annette Hagemann auf fabMUC und anderswo zu lesen und zu hören sein werden.
stevan sagte am 17. September 2011 um 16:30:
Vielen Dank, Lothar Thiel, für diese wunderbare Betrachtung von Annette Hagemanns Gedicht. Eine Bereicherung!
Annette Hagemann sagte am 18. September 2011 um 17:29:
Lieber Lothar Thiel,
ich habe mich vor kurzem erst mit einem Freund darüber ausgetauscht, dass es neben dem Schreiben eines Gedichts das Spannendste ist, zu beobachten, was mit dem Gedicht passiert, nachdem man es in die Welt hinausgeschickt hat. Wie es ihm “dort draußen” ergeht – und wie erstaunlich gut es dort oft aufgehoben ist (manchmal denke ich: besser als bei mir)! Wenn ich ein Gedicht schreibe, stecke ich schon hinein, was ich an Gedanken und Lebenserfahrung zusammenkratzen kann, aber was andere, mir unbekannte kluge Menschen da späterhin noch alles “herauszuholen” im Stande sind, das verblüfft und entzückt mich immer wieder – dann kommen mir Gedichte vor wie weitergereichte Zauberhüte.
Vielen Dank fürs höchst angenehme Dämonisieren!
Lothar Thiel sagte am 18. September 2011 um 22:06:
Liebe Annette Hagemann,
es war mir ein ein ganz besonderes Vergnügen, an der Seite des lyrischen Ichs des Morgens durch den chinesischen Markt zu schlendern. Mir gefällt die Metapher vom Gedicht als weitergereichtem Zauberhut ausgesprochen gut, denn sie ist nicht nur schön, sondern (ein klassischer Glücksfall!) auch richtig: Ohne die Zauberkraft von “china town” wäre ich wohl nie auf den Einfall gekommen, Drachen mit Eudämonie in Verbindung zu bringen – und Thilo S. mit dem deutschen Märchen (obwohl…).
Ich also bin es, der für diesen dämonischen Moment und für die freundlichen Worte zu danken hat. Bis zum hoffentlich bald folgenden nächsten Gedicht!
Herzlichst,
Lothar Thiel