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Null hoch sieben

Bei einem Streifzug durch meinen Windows Explorer, Abteilung „Rezensionen“, begegne ich einem zweieinhalb Jahre alten Text, den ich im März 2015 verfasste, wenige Monate vor dem Ende meines acht Jahre umfassenden Lebensabschnitts in Bilbao. Darüber, ob sein Inhalt der unvermeidlichen Melancholie dieser Tage geschuldet ist oder der grundsätzlichen Vermintheit des Geländes der Rezensionen, will ich keine Hypothese wagen. Darüber, ob dieser Text an sich entbehrlich ist, tampoco. Schließlich sollte man sich ja nicht selbst rezensieren.

   
Null hoch sieben

Ich lag entspannt in der Badewanne und blätterte in verschiedenen Ausgaben der Süddeutschen Zeitung und des Spiegels, die sich in den Tagen und Wochen zuvor umständehalber ungelesen in meinem Arbeitszimmer gestapelt hatten. Was dabei die Erinnerung an jenes höchst seltsame Erlebnis im Café am Stadtpark von Bilbao auslöste, ist mir entfallen. –

Stadtpark von Bilbao

Nach schier zahllosen Regenwochen schien endlich wieder einmal die Sonne und verbreitete zum ersten Mal in diesem Jahr frühlingshafte Temperaturen. Die Menschen strömten durch die Straßen Bilbaos und die Cafés füllten sich, so auch jenes am Rande des Parque de Doña Casilda Iturrizar. Ich saß sinnierend bei einem Glas Rosado Navarro und fixierte den berühmten unbestimmten Punkt in der Ferne. Dass eine Person dicht an meinem Tisch vorbeijoggte und dabei etwas Weißes fallen ließ, drang erst einige Zeit später in mein Bewusstsein vor. War es eine Frau gewesen oder ein Mann? Ich wusste es nicht. Ich blickte auf das, was die Person hatte fallen lassen. Es war ein nur lose zusammengeknülltes Blatt Papier. Nichts Besonderes, ein Mensch mit unterentwickeltem ökologischen Bewusstsein hatte eben seinen Abfall auf diese Weise entsorgt. Doch dann entdeckte ich darauf meinen eigenen Namen. Ich hob das Objekt auf, faltete es ungeduldig auseinander und begann zu lesen. Der ganze Inhalt war ziemlich abstrus und natürlich frei erfunden. Was mich aber beunruhigte, waren die eingestreuten Körnchen biographischer Wahrheit. Wer war dieser Mensch gewesen und woher hatte er Informationen über mich? Und wozu gab er mir diesen Unsinn zu lesen?
       
   
„Lothar Thiel ist ein rüstiger Sechziger, er geht also noch nicht am Stock, zumindest nicht körperlich. Er ist von Beruf Lyriker und Rezensent. Da die Veröffentlichung von Gedichten in Buchform seinem Bankkonto nur ein negatives Wachstum beschert hat und er sich mit seinen bisher sechseinhalb Rezensionen allein auch nicht wirtschaftlich über Wasser halten könnte, verdient er sich am Ort ein kleines Zubrot als Deutschlehrer. 

Die Rezension ist ein parasitäres Gewerbe, sofern sie sich nicht als Dienstleistung für die Bürger versteht, die auf interessanten Lesestoff hingewiesen und vor schlechtem gewarnt werden möchten. Parasitär, weil mit der Existenz des Besprechungsgegenstands, des Romans oder des Gedichtbands, normalerweise ja schon 95% der Arbeit des Kritikers vollbracht sind. Eine andere als die oben genannte Möglichkeit, diesen Makel zu vermeiden, wäre, das zu rezensierende Werk nicht einfach aus dem Regal zu ziehen, dem eigenen oder dem einer Buchhandlung, sondern es eigens zum Zweck der Rezension zu erfinden bzw. seine Existenz zu fingieren. Schöne Literatur ist ja per se Fiktion und dem Fiktionalen ist das Fingieren ureigen. Soweit schön und gut, aber was fängt ein Freund der Literatur mit der Rezension eines Buches an, das er niemals wird lesen können?

Einigen wenigen Eingeweihten ist bekannt, dass Thiel sich vorzügliche neu erschienene Bücher zur Besprechung auf den Schreibtisch gelegt hat, etwa Gerd Franks Übersetzung der 1909 erschienenen Romanheftreihe ‚Sâr Dubnotal‘ aus dem Französischen und Spanischen oder Brigitte Pons’ Hommage an Dürrenmatt ‚Ich bin ein Mörder‘. Nicht zu vergessen Heinz Pellers vielversprechendes Romandebüt ‚Stainers letzte Geige‘. Alles Bücher, die man getrost anspruchsvollen Lesern empfehlen könnte.

Thiel jedoch beschloss, sich erst einmal mit einem bereits 44 Jahre alten Werk zu beschäftigen oder genauer gesagt, mit dessen nur knapp sechs Seiten umfassendem Vorwort. Wenn Bequemlichkeit das oberste Prinzip der Rezension ist, ist es nicht verwunderlich, wenn dabei gestandene Bücher ins Hintertreffen geraten, insbesondere ‚Stainers letzte Geige‘ mit ihren 554 Saiten.

1971 erschien in Warschau Stanisław Lems Buch ‚Doskonała próżnia‘; zehn Jahre später war es unter dem Titel ‚Die vollkommene Leere‘ auch in Deutschland erhältlich. Es vereinigt 15 Rezensionen von Büchern, die es gar nicht gibt. Um die Scheinhaftigkeit der ‚vollkommenen Lehre‘ noch zu steigern (oder zu verstecken?), lässt Lem im Vorwort des Buches zunächst einen, wie könnte es anders sein, fiktiven Rezensenten seiner Antonologie zu Worte kommen. Es ist wohl gerade der Manierismus des gegenseitigen Verwaisungsverhältnisses von Wortreichtum und Substanzlosigkeit, von Sein und Nichtsein, die es dem Rhetorikbewunderer Thiel angetan hat und ihn dazu motibiert, auf diese creatio nihili ex nihilo noch die eigene Rezession draufzusatteln.“ 
     
       
Offen gestanden kann ich mit diesem abgerissenen Elaborat nicht das Geringste anfangen, aber das ging mir schon mit vielen anderen Texten so und vielen Menschen bestimmt auch mit meinen. Dazu noch diese kalauernden Rechtschreibfehler! Und von wegen „Rhetorikbewunderer“, einfach lächerlich!

Aber wozu soll ich mir eigentlich großartig Gedanken machen? Deswegen werde ich jedenfalls keinen Bodyguard einstellen. Wahrscheinlich hat nur ein zu Albernheiten neigender Kollege seinen Hund mit im Spiel. Wurst! Im Grunde genommen geht’s ja um Nichts.